Von Joachim Starbatty (aus der NZZ, 19.01.08)
Wenn es konjunkturpolitisch hart auf hart geht, orientieren sich die geldpolitischen Akteure an John Maynard Keynes, auch wenn er immer wieder für tot erklärt wird. Mit Zinsen auf Niedrigstniveau wollen sie die Konjunktur stimulieren; und sie fluten schliesslich die Märkte mit Liquidität, um ein Ausgreifen von Gefahrenherden auf die Gesamtwirtschaft zu unterbinden. Die theoretischen Erkenntnisse von Keynes' Widerpart, Friedrich August von Hayek, sind in Vergessenheit geraten. Hayek sah die Ursache für konjunkturelle Turbulenzen in einer verzerrten Zinsbildung begründet. Seine Konjunkturtheorie lässt sich in fünf Phasen gliedern:
- Eine höhere Investitionsbereitschaft lässt die Nachfrage nach Kapital steigen;
- die Banken sind bereit, diese zusätzliche Nachfrage zu gleichbleibenden Zinssätzen zu befriedigen; Hayek nennt dies die perverse Elastizität des Kreditangebots;
- der zu niedrige Preis für Kapital führt zu einem falschen Produktionsaufbau;
- der im Zuge des Konjunkturaufschwungs anziehende Zins deckt den fehlgeleiteten Produktionsaufbau auf;
- der Prozess der Bereinigung der Produktionsstruktur mündet in eine sich verschärfende Konjunkturkrise
Zieht man die Hayeksche Konjunkturtheorie als Referenzrahmen zur Erklärung der Subprime-Krise heran, ist zu bedenken, dass jeder Konjunkturzyklus spezifische Merkmale aufweist und dass das Erfahrungsmaterial sowie das institutionelle Arrangement Hayeks, in dem sich seinerzeit die Konjunkturschwingungen vollzogen, aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammen. Freilich ist das bewegende Phänomen des Hayekschen Prozesses zeitlos: Der Zins als relativer Preis zur Steuerung des gesamtwirtschaftlichen Produktionsaufbaus ist nicht an Raum und Zeit und an bestimmte institutionelle Arrangements gebunden. Anhand des Hayekschen Phasenschemas kann die Entstehung der Subprime-Krise wie folgt nachgezeichnet werden.
Phase 1: Die für die Weltwirtschaft entscheidenden Zentralbanken haben nach dem Absturz auf den Aktienbörsen im Laufe des Jahres 2000 den Refinanzierungszins auf ein so niedriges Niveau – gemessen am Index für Konsumentenpreise war der Realzins sogar negativ – gesetzt, dass dies als auslösendes Moment des letzten Zyklus angesehen werden muss.
Phase 2: Die niedrigen Zinsen waren als Einladung an die Banken gedacht, über die Refinanzierung bei den Zentralbanken die Realwirtschaft mit Liquidität zu günstigsten Konditionen zu versorgen, um so den Konsequenzen des Platzens der Blase auf den Aktienmärkten entgegenzuwirken. Zuvor hatte der Fed-Präsident ein zentrales Signal für Banken und Unternehmerwirtschaft gesetzt. Unter seiner Stabführung – bei Heranziehung der wichtigsten Notenbanken – ist der LTCM-Hedge-Fund in einer koordinierten Runde vor dem Konkurs bewahrt worden. Greenspan wollte die Auslösung einer Kettenreaktion verhindern. Zugleich hat das Fed ausserhalb des Turnus zweimal den Refinanzierungssatz um jeweils 25 Basispunkte gesenkt. Das ist als Zinsreduktion keineswegs nennenswert, wohl aber als Signal an die Märkte: Das Fed wird sich anbahnenden Liquiditätsengpässen entgegenwirken. Diese Politik ist als «Greenspan put» in die jüngste Geldgeschichte eingegangen: Die Geldpolitik des Fed wird als eine Versicherung gegen gesamtwirtschaftliche Liquiditätsengpässe und damit als Absicherung gegen das Absinken der Börsenkurse auf breiter Front gesehen.
Phase 3: Die liquiditätsmässige Flutung der verschiedenen Märkte hat den Zins als Lenkungsinstrument des gesamtwirtschaftlichen Produktionsaufbaus ausser Kraft gesetzt; dies gilt für den Markt für Unternehmensübernahmen weltweit. Die darauf spezialisierten Investmentfonds verfügten über hinreichend Liquidität zu günstigsten Konditionen und haben dabei auch Projekte angebahnt, bei denen sich die Übernahmepreise von der Realität gelöst haben, so dass die dahinterstehenden Banken schliesslich die Kreditierung auf die eigenen Bücher nehmen mussten. Die einzelnen Kredittranchen konnten im Markt nicht mehr untergebracht werden. Der frühere Chefökonom der EZB, Otmar Issing, war sich dieser Risiken bewusst, als er festhielt: «Der sehr expansive Kurs der Geldpolitik hat die Liquidität global wie im Euro-Raum stark erhöht. Die hohe Liquidität birgt ein inflationäres Potenzial in sich. Sie hat auch dazu beigetragen, dass bei der Jagd nach Renditen die Risikoprämien so abgeschmolzen sind, dass sie für viele Anlagen das wirkliche Risiko nicht angemessen abbilden.»
Die Geschichte auf dem US-Immobilienmarkt ist dafür ein repräsentatives Beispiel. Sie kann nur in Umrissen erzählt werden, aber das ist bereits hinreichend zur Erläuterung, wie hier systematisch der Zins als Steuerungsinstrument ausgehebelt wurde. Niedrige Zinsen beflügeln besonders den Immobilienmarkt, da Zinssenkungen die jährliche Finanzlast stark sinken lassen bzw. für die gleichbleibende Last eine höherwertige Immobilie erworben werden kann. Wird die Kaufkraft mittels niedriger Zinsen in diese Richtung gelenkt, so steigen zum einen die Preise für Immobilien, und zum anderen wird der Bausektor samt vor- und nachgelagerten Branchen an gesamtwirtschaftlichem Gewicht zulegen. Bleiben die Zinsen niedrig, so werden steigende Immobilienpreise nicht abschrecken, sondern die Kauflust sogar noch stimulieren: Kaufe oder baue heute, denn morgen ist es schon wieder teurer geworden. Hinzu kommt, dass der US-Immobilienmarkt mit aggressiven Konditionen aufwartet: Eigenkapital ist nicht erforderlich, Wertsteigerungen können nachträglich hypothekarisch beliehen werden, und es werden Lockzinsen gewährt. Tatsächlich erhöht sich der Zins im Laufe der Zeit. Die Belastung könne aus einem steigenden Gehalt leichter getragen werden, lautet die Begründung.
Vor nicht geraumer Zeit galten diese Konditionen als eine soziale Errungenschaft, weil sie den Erwerb eines Eigenheims auch für Schichten mit unterdurchschnittlichem Einkommen möglich machten. Natürlich drehen sich diese die Anschaffung fördernden Elemente gegen den Erwerber, wenn die Konjunktur auf dem Baumarkt kippt und die Zinsen obendrein steigen, zumal sich eine schier unvorstellbare Leichtfertigkeit etabliert hatte:
- Kreditmakler machten Jagd auf alles und jeden, der noch keine oder keine hochwertige Immobilie besass; sie erhielten von den Banken Prämien für jeden abgeschlossenen Kreditvertrag, bis schliesslich sogenannte Ninja-Verträge abgeschlossen wurden (no income – no job);
- die Banken haben diese zinsmässig attraktiven Kreditpakete (sogenannte Subprime-Kredite) an eigens gegründete Zweckgesellschaften (Special Purpose Vehicles SPV, Conduits) weitergereicht;
- die SPV verbrieften diese Darlehensverträge; teilweise mischten sie sie mit anderen Kreditverpflichtungen (Leasing-Verträge, Ratenverträge für PKW, Kreditkarten-Verpflichtungen) und machten sie so kapitalmarktreif;
- Rating-Agenturen haben die Ausfallwahrscheinlichkeit solcher Kreditpakete mangels historischer Vorbilder und aufgrund hypothekarischer Sicherungen als höchst gering eingeschätzt und mit Bestnoten versehen; das höchste Rating erhielten Papiere, deren Ausfallrisiko versichert war;
- die Käufer solcher Papiere (Geschäftsbanken, Investmentfonds und auch Hedge-Funds) haben sie in Abhängigkeit von deren Bonität mit Eigenkapital zu unterlegen; bei einem guten Rating ist nur eine geringe Unterlegung erforderlich;
- zu einem nicht geringen Teil haben Banken die Subprime-Kredite, die sie selbst verbrieft haben, auf die eigenen Bücher genommen;
- die Ankäufer haben ihr langfristiges Engagement in der Regel über kurzfristige Einlagen finanziert.
Solange die Immobilienpreise stiegen und die Zinsen niedrig blieben, ist die US-Konjunktur weiter stimuliert worden: Wegen steigender Immobilienpreise rechneten sich die Eigentümer reich und fuhren fort, ihre Häuser mit Hypotheken zu Niedrigstzinsen zu belasten. Sie erhöhten dadurch ihren Gegenwartskonsum. Sie wandelten Zukunftskonsum systematisch in Gegenwartskonsum um, wobei die in den USA bestehende Güterlücke hauptsächlich durch Importe aus China gefüllt wurde.
Phase 4: Der Zinsanstieg bewirkt den Umschwung. Nach Hayek deckt ein aus endogenen Gründen steigender Zins den falschen Produktionsaufbau auf; die darauf einsetzenden Anpassungsprozesse bewirken den konjunkturellen Umschwung. In den USA und auch im Euro-Klub haben die Zentralbanken in Schritten von jeweils 25 Basispunkten schliesslich ein Zinsniveau realisiert, das die Notenbankchefs wohl als konjunkturneutral eingestuft haben. Folgen solche Trippelschritte in einem bestimmten Rhythmus und wird die interessierte Öffentlichkeit entsprechend darauf eingestellt, so werden die Zinserhöhungen «eingepreist», und die dämpfende Wirkung bleibt aus. Im Gegenteil: Gibt die Zentralbank zu erkennen, dass weitere Schritte folgen werden, so wirken solche Signale prozyklisch – verschulde dich lieber heute als morgen. Verharrt der Refinanzierungssatz schliesslich auf der obersten Treppenstufe – in den USA war es ein Refinanzierungssatz von 5,25% –, so wird er zumindest in den zinssensiblen Sektoren konjunkturdämpfend wirken. Im Immobilienbereich steigt bei Verträgen mit variablen Zinsen die Belastung entsprechend an, zumal die Kreditverträge sogar noch mit Lockzinsen ausgestattet waren.
Fallen dann die ersten Hypothekenschuldner aus, sinken die Immobilienpreise. Können deswegen weitere Schuldner ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen, so werden Kreditbündel mit solchen Subprime-Anteilen verdächtig, und die Bereitschaft, dafür Liquidität (wenn auch nur kurzfristig) bereitzustellen, sinkt schlagartig; und damit schnellen die Zinsen nach oben. Eine kurzfristige Refinanzierung ist in dieser Situation kaum noch möglich oder nur noch zu hohen Risikoaufschlägen. Dass die Banken einander fortan misstrauen und ihr Geld lieber horten als an risikobehaftete Banken weiterreichen (credit crunch), ist eine erklärliche Reaktion. Der credit crunch würde natürlich auf die Realwirtschaft ausstrahlen und damit F. A. v. Hayeks Aussage bestätigen, dass der Zinsanstieg zu einem kritischen Zeitpunkt den Umschwung bewirkt.
Phase 5: Wie sich der durch die Subprime-Krise initiierte Umschwung auf die Realwirtschaft auswirkt, kann nicht im Einzelnen vorausgesagt werden. Die Flutung der Märkte mit Liquidität soll ein Übergreifen auf die Realwirtschaft unterbinden. Dies zeigen die Reaktionen an den Aktienbörsen deutlich. Freilich kann niemand verlässlich sagen, ob es sich hier um monetär gezündete Strohfeuer handelt oder ob die Gewissheit eingekehrt ist, dass sich die Subprime-Krise so isolieren lässt. Wir wissen aber, dass in den USA die Bauindustrie und der private Konsum, weil zuvor Zukunftskonsum in Gegenwartskonsum umgewandelt wurde, als massgebliche Konjunkturtreiber ausfallen. Sollte der Anstieg der Konsumentenpreise in den USA nicht nachlassen – wegen steigender Rohstoffpreise, anziehender Importpreise über die Abwertung des Dollars und teurer werdender Importgüter aus China (auch wegen der Preisanpassung dort) –, dann ist ein Szenario aus Stagnation und Inflation, also die Stagflation, durchaus realistisch. Sollte es dazu kommen, wird dies wegen des Ausfalls an weltwirtschaftlicher Nachfrage Rückwirkungen auf die Weltwirtschaft insgesamt haben. Wenn dann noch wegen der Zinssenkungen in den USA der Dollar zu trudeln begänne, dann würde es wirklich ernst.
Die Lehren aus der Subprime-Krise
Was können wir aus der Subprime-Krise lernen? Eine generelle Flutung der Geldmärkte und eine Zinssenkung auf breiter Front würde Hayek für kontraproduktiv halten, weil so der falsche Produktionsaufbau überlagert und Strukturbereinigungen hinausgezögert würden, so wie es in Japan mit einer extremen Billiggeld-Politik und einem ausufernden Staatsdefizit noch 18 Jahre nach Platzen der Bubble der Fall ist. Was wäre langfristig zu tun? Ein Blick auf die alte Goldwährung kann uns klarmachen, was im Prinzip nötig wäre. Joseph Schumpeter plädierte – im Gegensatz zu John Maynard Keynes – für ein Festhalten am Goldstandard, weil der Abfluss von Gold bei einer exzessiven Geldmengenaufblähung den nationalen Goldvorrat schmälern und damit die Zentralbank zu einer restriktiven Politik zwingen müsste. Dies war für ihn die «goldene Bremse an der Kreditmaschine». Nach dem Übergang zum sogenannten Fiat Money (Geld, das nicht oder nur teilweise durch reale Vermögenswerte gedeckt ist) fehlt dieser Sanktionsmechanismus. Ein Zurück in den Goldstandard wird es nicht geben, doch hatte sich die Deutsche Bundesbank mit ihrer Geldmengenvorgabe eine solche Bremse selbst geschaffen. In der amerikanischen Geldpolitik und auch unter der Ägide der EZB ist eine monetäre Selbstbindung zu einem blossen Erinnerungsposten herabgestuft worden. Der seit 1999 stark gestiegene Geldmengenüberschuss auch im Euro-Raum zeigt das.
Daraus können wir folgende Schlussfolgerung ziehen: Die Zentralbanken müssen sich einer disziplinierenden Regel unterziehen, damit sie nicht unter dem Anschein der Allmächtigkeit im Bankensektor der perversen Elastizität des Kreditangebots Vorschub leisten und damit die Tendenz zu einer Attitüde des «moral hazard» fördern.