Monday, October 4, 2010

Recht und Gesetz: Eine Replik (amv)

  1. Es gibt sicher Banker auf Anti-S21 Demos. Die fallen besonders ins Auge, wenn man mit ihnen hingeht. Die Frage ist, inwieweit alle soziologischen Milieus entsprechend ihres sonstigen Gewichts vertreten sind. Ich habe natürlich keine Daten erhoben und auch meine Evidenz ist anekdotisch. Aber es scheint mir, als ob Pro-S21 Veranstaltungen tendenziell andere Milieus anziehen, als Anti-S21 Demos (vielleicht auch nur, weil die einen für das Project 'laufen' und die anderen eher nicht).
  2. Grundsätzlich gilt: Wenn sich 100.000 Leute in Stuttgart treffen, dann ist es noch nicht die Mehrheit. Nicht in Stuttgart, nicht in Baden-Württemberg. "Wir sind das Volk" als Schlachtruf relativiert nicht nur die Deutsche Einheit in absurder Weise; ich, immerhin ein Teil des Volkes, empfinde es auch als anmaßend. In Wirklichkeit stellt sich hier eine Minderheit gegen das Recht. Selbst wenn die Mehrheit nach aktuellen Umfragen gegen S21 ist, ist diese Mehrheit nicht bei der Demonstration anwesend. Während einige gegen den Untergang des Abendlandes kämpfen, shoppen andere friedlich im Hugendubel, trinken Kaffee bei Starbucks, saufen auf dem Volksfest, schlafen mit der Partnerin, oder was auch immer. Anmaßend ist, wenn Demonstranten sich diese Leute zurechnen, um dadurch Legitimität zu erheischen.
  3. Da wir nicht in einem Unrechtsregime leben, und Gesetz und Recht demnach nicht prinzipiell auseinanderfallen, stehe ich grundsätzlich auf der Seite des Gesetzes. Die Achtung vor dem demokratisch legitimierten Gesetz ist eine der Kerntraditionen Europas. Eine weitere demokratische Tradition ist die, auch mal verlieren zu können. Gegner von S21 hatten mehr als zehn Jahre Zeit, um Mehrheiten zu organisieren. Sie haben es nicht rechtzeitig geschafft. Pech. Nächstes mal besser machen.
  4. Wir leben nicht in einer Diktatur der Mehrheit, sondern in einer repräsentativen Demokratie. Es mag ja vielen nicht passen, dass sie ihre oft undurchdachten, emotionalen Punkte auf diese Weise nicht durchsetzen können. Aber so ist die geltende Verfassung! Und ich bin nun einmal Verfassungspatriot. Gerade, weil Kollektive nicht sonderlich intelligente Einheiten sind (individuelle Intelligenz kann schwer aggregiert werden), haben alle westlichen Demokratien Schranken für die Mehrheit aufgebaut.
  5. Lukas, Du schreibst: "Wir rühren aber an einer grundsätzlicheren Frage: Wie repräsentativ sollte unsere Demokratie sein? Darf die Politik den Präferenzen einer Mehrheit  - jüngste Meinungsumfragen sehen eine Mehrheit gegen S21 in Stuttgart und im Land Ba-Wü - zuwider handeln? Reicht es aus, alle vier Jahre zur Wahl zu gehen und in den Legislaturperioden die Politik gleichsam sich selbst zu überlassen? Grundsätzlich ja. Mehrheitspräferenzen können auch ineffizient sein." --- Ganz einfach: Wie repräsentativ unsere Staatsform sein soll, steht in der Verfassung. Wenn die Leute was anderes wollen, muss zuerst(!) die Verfassung geändert werden. Davor(!) haben die Bürger kein Recht, den gewünschten Grad selbst festzulegen, oder ihn der Dynamik des Mobs zu unterwerfen. Und natürlich darf die Politik den Umfragen zuwider handeln! Was wäre das für eine Politik, was wäre das für ein Rechtsstaat, wenn geltende Beschlüsse ständig an aktuellen Umfragen angepasst würden? Ob es ausreicht alle vier Jahre wählen zu gehen? Klar, so steht es in der Landesverfassung (im Land dauert die Legislaturperiode 5 Jahre).  
  6. Darf man eine Gegenfrage stellen: was tun die Bürger innerhalb der 5 Jahre, um sich ein umfassendes Bild von der politischen Lage zu machen? Wieviele Bürger beschäftigen sich wirklich ernsthaft mit der Politik (und zwar sachlich). Natürlich ist es naiv zu glauben, dass sich alle Leute zu Politikexperten entwickeln. Aber gerade deswegen haben wir ja auch eine repräsentative Demokratie. Wollen die Leute mehr Abstimmungsfreiheiten, müssen sie mehr Verantwortung übernehmen. Ich bin da skeptisch.