Tuesday, March 22, 2011

Der Fall Libyen (amv)

Die Bundesregierung steht unter Beschuss. Zumindest die veröffentlichte Meinung in Deutschland, aber auch viele Stimmen im Ausland, werfen der Bundesregierung vor, aus der westlichen Allianz auszuscheren und ihrer Verantwortung nicht gerecht zu werden. Es folgen ein paar Fragen und Anmerkungen:
  1. Werteorientierte Außenpolitik vs. Realpolitik: Die Befürworter des Militäreinsatzes argumentieren, dass es humanitäre Pflicht sei, auf Libyen militärisch einzuwirken. Wenn es allein um Moral ginge, müsste die westliche Allianz in vielen Krisengebieten eingreifen. Niemand möchte das. Es geht auch gar nicht, weil unsere militärischen Kapazitäten nicht ausreichen. Also müssen weitere Kriterien herangezogen werden, um die möglichen Einsätze sinnvoll einzugrenzen. Und schon sind wir im Bereich der Realpolitik, welche nationale Interessen in den Vordergrund stellt. Was sind die deutschen Interessen? Hier geht es um Migrationbewegungen, um ökonomische Stabilität (z.B. Energiepolitik), um die Positionierung im westlichen Bündnis, um die Vermeidung militärischer Überdehnung, etc. Hier geht es um ein sachliches Für und Wider, also um Abwägungen; es geht um ganz viel grau, und nie um schwarz oder weiß. Die moraltriefenden Argumentationlinien, die in Deutschland seit Joschka Fischers Holocaust-Begründung für den Kosovo-Einsatz gängig sind, führen nicht notwendigerweise zu den Ergebnissen, die wir uns alle wünschen. 'Gut gemeint' ist nicht gleich 'gut gemacht'. Es ist schon erstaunlich, dass ein Bundespräsident sich genötigt sieht zurückzutreten, weil er die Selbstverständlichkeit ausspricht, dass Deutschland seine Handelswege sichert, während ein Hals-über-Kopf Beschluss zu einem Militäreinsatz in Lybien auf große Sympathie stößt.
  2. Deutschland und die Welt: Die aktuelle Debatte legt nahe, dass Deutschland sich außenpolitisch isoliert. Mag sein. Aber noch ist Deutschland ein souveräner Staat und darf seine Interessen selbstbewusst formulieren. Niemand darf Deutschland vorhalten, internationale Verpflichtungen nicht ernstzunehmen. De facto, sind auch die Amerikaner skeptisch und vor allem sind sie müde, den Weltpolizisten zu geben. Aufgrund Ihrer Sonderrolle als primus inter pares sehen sie sich jedoch genötigt, für eine kurze (!) Zeit dem Drängen Frankreichs und Englands nachzugeben. Und gerade in Hinsicht auf die arabische Welt hat die NATO vor wenigen Wochen ihren Abschied von solchen Einsätzen beschlossen. Im Grunde handelt Deutschland so, wie die USA gerne handeln würde. Gott sei Dank sind wir nicht Führungsmacht der westlichen Welt und können selbstständig entscheiden. Davon Gebrauch zu machen, ist sicher keine Schande. Des Weiteren: Es geht rechtlich nicht um Gadaffi vs. Zivilisten als homogene Masse. Es geht um Gadaffi und die Bevölkerungsgruppen, die von ihm profitieren, vs. eine bewaffnete Rebellenmiliz. Die eigentlichen Zivilisten stehen dazwischen. Völkerrechtlich ist es problematisch, sich auf die Seite der Rebellenmiliz zu schlagen. Und glauben Sie nicht, dass diese Rechtsstaat und Demokratie für Libyen entdecken sobald Gadaffi beseitigt ist. Lybien ist kein Nationalstaat, sondern eine Stammesgesellschaft. Was am Ende geschieht, d.h. welches von den multiplen Gleichgewichten sich einstellt, ist nicht absehbar. Es gilt also die eigentliche Frage: gegeben der hohen Unsicherheit, sollen wir trotz berechtigter Zweifel eingreifen oder nicht? Die Beweislast, so meine Meinung, liegt bei jenen, die den militärischen Einsatz befürworten. Vor allem: was machen wir mit den Nachbarländern, in denen die Herrschaftselite ebenfalls auf unbewaffnete Zivilisten schießt? Wenn wir nicht überall eingreifen, dann sind unsere Werte unglaubwürdig.
  3. Wahlkampf als Motiv: Sind die anstehenden Landtagswahlen ein Motiv der Bundesregierung? Wird Staatsräson dem schnöden Machterhalt untergeordnet? Mag sein. Aber ist es nicht so, dass Frankreichs Präsident innenpolitisch unter Druck steht und besonders aggressiv handelt, um seine besonders innige Umarmung nordafrikanischer Despoten vergessen zu machen? Soll die deutsche Politik die eigenen Mehrheiten ignorieren, um Präsident Sarkozy in seinem Wahlkampf zu unterstützen? Sollen deutsche Soldaten nicht deutschen Interessen dienen, aber wie selbstverständlich Figuren im französischen Machtkalkül werden?  Ist es nicht eher die französische Position, die Fakten schafft, ohne auf die europäischen Partner Rücksicht zu nehmen? Immerhin ist der französische Außenminister Juppe eigenständig nach Libyen gefahren, um zu erklären, dass die Rebellen einwandfreie Positionen vertreten. Frankreich hat diese dann einseitig und ohne europäische Abstimmung als legitime Vertreter der lybischen Bevölkerung anerkannt. Und ist es nicht die französische Regierung, die einen Keil zwischen die NATO-Partner treibt: den kurzfristigen Ruhm für die Grande Nation, die langfristigen Folgen für die NATO-Partner?
  4. Im UN Sicherheitrat zustimmen; sich aber militärisch entziehen: ist das eine Option? Ist das nicht bigot? Würde sich die Bundesregierung nicht der berechtigten Kritik aussetzen, ihren eigenen Beschluss im Sicherheitsrat zu unterlaufen? Kann die größte europäische Nation und wichtiges NATO-Mitglied sich eine derart inkonsistente Haltung leisten? Verschafft uns das mehr Gewicht und Respekt im Ausland? Sind die chaotischen Zustände innerhalb der NATO nicht problematisch genug, auch ohne ein klares deutsches 'Jein'?  Und warum sind Frankreich und England für den militärischen Einsatz, aber gegen ein Ölembargo? Immerhin gilt: ohne Moos nix los ... gilt auch für Gadaffi. Genau: wegen realpolitischen Abwägungen sind Frankreich und England dagegen. Fair! Aber dann können auch wir uns ebenfalls realpolitisch verhalten: wir wollen halt ein Embargo, aber keinen Militäreinsatz.
  5. Die Araber: Erst drängt die Arabische Liga den Westen zum militärischen Einsatz. Bei der ersten Gelegenheit macht sie dann einen Rückzieher. Sind das jetzt unsere verlässlichen Partner? Wo sind denn die zugesagten Kampfjets aus den Arabischen Emiraten und aus Qatar? Und ist es nicht ebenfalls bigot, den Despoten Gadaffi mit der Unterstützung der Despoten aus Saudi-Arabien zu begegnen? Ist das werteorientierte Außenpolitik? Immerhin haben die Saudis ihre Truppen nach Bahrain entsandt, um die schiitische Volksgruppe in Schach zu halten. Warum gehen wir gegen den einen vor, aber nicht gegen die anderen? Antwort: aus realpolitischen Abwägungen! Wenn den Arabern die libyische Bevölkerung derart am Herzen liegt, dann sollten sie selbst eingreifen. Kampfjets haben sie genug; wir (der Westen) haben sie ja alle geliefert. Grundsätzlich gilt: die arabische Welt muss sich selbst von ihren orientalischen Tyrannen befreien. Das kann ihnen niemand abnehmen. Und wer sind die Araber eigentlich? Ich weiß von keinen soliden repräsentativen Umfragen unter Arabern, die uns belastbare Daten über ihre Einstellung geben. Alles andere ist anekdotische Evidenz und damit mehr oder weniger wertlos. Demnach sind alle Vereinnahmungen der Araber für die eine oder andere Position bestenfalls problematisch. 
Also: Bitte weniger Herz für ein bißchen mehr Verstand!

PS: Wenn wir den Yasmin-Bewegungen in Nordafrika unter die Arme greifen wollen, wie wäre es mit der Öffnung unserer Agrarmärkte für deren Produkte? Ohne wirtschaftlichen Erfolg werden die neuen Regime in Ägypten und sonstwo keine Chance haben. Schon vergessen? Wir Deutschen haben die Demokratie umarmt, weil sie mit dem Wirtschaftswunder kam! Zuvor hatten wir die Demokratie verraten, weil wir Massenarbeitslosigkeit, Hyperinflation und Hunger im Zuge der Großen Depression erlitten.